Es gibt eine Reihe von klassischen Texten, die sich mit dem Taijiquan befassen. Das wohl bedeutendste Werk ist „Taijiquanlun“ von Wang Zongyue. Jeder, der in China Taijiquan praktiziert – egal welcher Stil – kennt auch Taijiquanlun. Obwohl der Inhalt in kleine Teilen variiert ist die Kernaussage für Chen-, Yang-, Wu-, Sun- und Wu-Stil von großer Bedeutung, denn Taijiquanlun beinhaltet alle wichtigen theoretischen Grundlagen des Taijiquan. Die Bedeutung ergibt sich jedoch nicht alleine aus dem Text. Vielmehr bilden Theorie und Praxis gemeinsam einen Prozess, eine Entwicklung. So habe auch ich den Text vor 20 Jahren anders verstanden als heute. Die Basis der persönlichen Entwicklung im Taijiquan bildet immer die eigene Praxis, denn nur durch stetiges Üben kann man Taijiquan zunehmend besser verstehen. Durch das Studieren des Taijiquanlun und die damit verbundene Beschäftigung mit den theoretischen Inhalten, kann wiederum die eigene Praxis verfeinert werden. Und genau das ist der Entwicklungsprozess wodurch man Jahre später die Inhalte des Taijiquanlun in einem anderen Licht sieht.
Klassischer Text
Taijiquan ist nicht nur eine Bewegungskunst, sondern vielmehr auch eine Lebenskunst. Aus diesem Grund lassen sich auch die Inhalten des Taijiquanlun erweitern und so tragen unsere Erfahrungen aus dem Leben dazu bei wie wir diese klassischen Texte für uns verstehen. In China sind klassische Schriften nicht auf nur einen Bereich fixiert, vielmehr lassen sie Interpretationsraum. Gleichzeitig war es den Verfassern dieser Texte nicht wichtig, dass jeder die Inhalte im Detail versteht. Genau das macht es auch so schwer diese zu erfassen. Wer den Text nicht versteht ist vielleicht noch nicht bereit dazu. Dies kann man beispielsweise auch an der Vielzahl von Übersetzungen und Interpretationen des Daodejing erkennen. Die Autoren dieser Bücher, in China und im Rest der Welt, versuchen dem Leser das klassische Werk zu erklären, nicht aber Laozi selbst. Chinesische Texte zu verstehen ist vor allem für Nichtchinesen schwierig. Umso schwerer wird es bei klassischen Schriften, die Interpretationsraum geben und eben nichts exakt definieren. So ist dabei ein gewisses Fachwissen unumgänglich. Jedoch ist für ein umfassendes Verständnis theoretisches Fachwissen alleine nicht ausreichend. Vielmehr müssen Praxis und Wissen parallel entwickelt werden.
Praxis und Theorie
Beim Taijiquanlun bedarf es für ein umfassendes Verständnis das eigene Tun, die eigene Praxis. Dabei ist ein guter Lehrer, der es versteht die geltenden Prinzipien erfahrbar zu machen, von großer Hilfe. Es geht aber nicht darum, im Taijiquanlun eine Bedeutung zu fixieren und diese als einzig Richtige festzuschreiben. Denn, wer das macht, hat nichts verstanden.
Das Gemeingut-Projekt von Thomas zum Taijiquanlun sehe ich als eine gute Grundlage an theoretischem Wissen. Diese Grundlage, gemeinsam mit persönlichen Erfahrungen aus der eigenen Praxis, geben dem Leser die Möglichkeit Taijiquanlun auf Basis des chinesischen Originals zu ergründen und zu erforschen. Dabei ist Thomas mit seiner Arbeit dem Grundgedanken des Taijiquan – einer offenen, persönlichen und ganzheitlichen Entwicklung – in Gänze gerecht geworden.
Chen Jumin, 2016