Wuji - Begriff der chinesischen Philosophie

無 (vereinfacht 无) {wú}  1.  Nichts  (Philos)  2.  es hat nicht   3.  fehlen, un-   4.  keiner,keine   5.  nein,nicht, ohne
極 (vereinfacht 极) {jí} 1.  Gipfel, Extrem  (S)  2.  Pol  (S)  3.  extrem; äußerst  (Adv)  4.  auf die Spitze treiben  (V)

Wuji

Der im Taijiquanlun verwendete Begriff Wuji, den wir wörtlich als „ohne Pol“ übersetzen könnten, ist ein eigenständiger Begriff. Im Werk Laozis, dem Daodejing, finden wir im Vers 28 den Begriff Wuji. Rainald Simons über setzt die Passage wie folgt:

…Wenn man der Welt eine Form gibt, dann weicht das beständige DE nicht ab, und man kehrt in die Unbegrenztheit (wuji) zurück.[1]Daodejing: Das Buch vom Weg und seiner Wirkung, Rainald Simon, Reclam Bibliothek, 2009

Wenn ich davon ausgehe, dass das wohin etwas zurückkehrt auch dem Ursprung entspricht, können wir uns Vers 25 des Daodejing ansehen. Eine, wie ich finde, sehr passende Beschreibung.

Es gibt ein Ding, das ist unterschiedlos vollendet. Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,so still, so einsam. Allein steht es und ändert sich nicht. Im Kreis läuft es und gefährdet sich nicht. Man kann es nennen die Mutter der Welt. Ich weiß nicht seinen Namen. Ich bezeichne es als SINN (Dao). [2]Laotse, Tao te King, Nikol Verlag 2013

Laozi verwendet Wuji synonym mit Dao. Dao wurde in den vielen frühen Übersetzungen mit SINN übersetzt. Übersetzer späterer Generationen bis heute, lassen signifikante Begriffe in der Regel stehen und umschreiben sie. Hier noch eine Übersetzung des Vers 28 des Daodejing.

Wer seine Mannheit kennt und seine Weibheit wahrt, der ist die Schlucht der Welt. Ist er die Schlucht der Welt, so verlässt ihn nicht das ewige LEBEN, und er wird wieder wie ein Kind.
Wer seine Reinheit kennt und seine Schwäche wahrt, ist Vorbild für die Welt. Ist Vorbild er der Welt, so weicht von ihm nicht das ewige LEBEN, und er kehrt wieder zum Ungewordenen um. [3]Laotse, Tao te King, Nikol Verlag 2013

Was kann man nun aber unter diesem “Nicht“, wie das Schriftzeichen für 無 (vereinfacht 无) {wú} bedeutet, verstehen? Für uns wäre es einfach Nichts. In China, wird das Negieren (verneinen) von Begriffen anders verstanden. In der mir vorliegenden Übersetzung des Daodejing aus dem Nikol Verlag wird erklärt: Sein und Nicht-Sein sind für die Chinesen konträre, nicht kontradiktorische Gegensätze.

Konträr – Kontradiktorisch

Diesen Satz habe ich anfangs nicht verstanden. Ich hatte zwar bereits verstanden, dass in China anders mit einem Nein umgegangen wird. Es aber zu erklären, fällt mir schwer. Mit der Unterscheidung von konträr zu kontradiktorisch ist es dennoch gut auf den Punkt gebracht. Ich versuche das Ganze mit meinen Worten zu beschreiben: Angenommen, es gibt für den Zustand einer Sache zwei mögliche Begriffe. Bezogen auf die Ausmaße eines Stocks zum Beispiel: groß oder klein.

Kontradiktorisch – Stock groß oder klein

Wenn wir sagen:“Der Stock ist groß“, heißt das für uns, dass der Stock nicht klein ist. Sagen wir: „Der Stock ist nicht klein.“, würde das, bei nur zwei möglichen Zuständen bedeuten, dass er groß ist. In unserer, eher kontradiktorischen Weltsicht kann der Stock also nicht beide Zustände nicht haben.

Konträr – Stock groß oder klein

Die Sache konträr zu sehen würde heissen, dass auch beide Aussagen gültig sind. Deuten wir unter diesem Aspekt die Aussage:“Der Stock ist nicht klein.“ gilt gleichwohl die Aussage:“Der Stock ist nicht groß.“

In dem genannten Buch des Nikol Verlags wird erklärt: „…es ist nicht einfach Nichts, sondern etwas vom Dasein qualitativ Verschiedenes.“
Selbst wenn wir einen Blick in die moderne Naturwissenschaft werfen, können wir analoge Ansichten erkennen.

Prof. Dr. Harald Lesch schreibt in einem Artikel:

Dass wir Dinge nach bestimmten Kriterien untersuchen können, ist bereits eine Form von Wissenschaftlichkeit. Und die naturphilosophische Fragestellung zum Beispiel nach dem Ursprung der Dinge wäre: Was ist denn das Wesen der Grenze der Materie? Was erleben wir denn, wenn wir Experimente mit der Materie machen, um zum Beispiel festzustellen: Ein Lebewesen, das vor uns sitzt, steht oder kreucht und fleucht besteht aus Atomen. Nein, es besteht nicht aus Atomen, es sind eigentlich Moleküle. Wenn wir aber in diesen molekularen Bereich hineinschauen, verliere ich das Lebewesen als Ganzes. Ich verliere noch mehr den Kontakt zu diesem Lebewesen, wenn ich die Moleküle auseinandernehme und mir die Atome anschaue. Dann ist es völlig egal. Dann kann ich auch irgendwelche Atome nehmen. Da unten wird die Welt nicht mehr individuell. Da ist nichts mehr da, alle Teilchen sind gleich. Man sieht einem Elektron nicht an, ob es in einem Molekül von einem Wildschwein war oder in einem Molekül einer Rose. Die Welt auf dieser Ebene ist eine völlig langweilige Welt, die nur aus Teilchen besteht. Diese Teilchen haben keine Individualität, gar nichts. [4]Lesch, Harald, Prof. Dr., Naturphilosophie Script, uni-auditorium

Wenn wir nun diesen Bereich der modernen Naturwissenschaft mit dem bereits Geschriebenen aus der östlichen Philosophie vergleichen, könnten wir sagen, dass wuji keine Individualität besitzt und trotzdem aus etwas besteht, also nicht einfach Nichts ist.
Die Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft ist ein sehr interessantes Feld. Du wirst merken, dass die Philosophen des alten Chinas bereits Erklärungsmodelle für Dinge gefunden hatten, die wir erst seit kurzem mit der Quantenphysik näher beschreiben können. Mache Dich ruhig auf die Suche. Ich verspreche Dir, es wird spannend.

 

Taijitu - Darstellung von Wuji

Das Taiji Diagramm von Zhou Dunyi (1017-1073)

Dieses Taijitu ist eines der bekanntesten Darstellungen, in der auch das Wuji vorkommt. Zhou Dunyi, einer der Begründer des Neokonfuzianismus, schreibt hierzu:

Der Urzustand (wuji) und dann das Taiji. Im Bewegung bringt das Taiji das Yang hervor. Wenn die Bewegung das Äußerste erreicht hat, entsteht Ruhe. Ruhend erzeugt das taiji das yin, doch wenn die Ruhe das Äußerste erreicht hat, entsteht Bewegung.

Zhou Dunyi hat in seinen Lehren die daoistische Kosmologie mit dem konfuzianischen Gedankensystem verbunden. Das Tàijíquán Lùn beginnt mit nahezu dem gleichen Inhalt wie das Werk von Zhou Dunyi. Man kann annehmen, dass Wáng Zōngyuè mit den einleitenden Sätzen dem Werk von Zhou Dunyi hier Respekt gezollt hat. [5]Bödicker Martin, Philosophisches Lesebuch zum Tai Chi Chuan II, BOEDICKER 2006

Kurz zusammengefasst, bedeutet das für mich, im Wuji ist bereits Alles vorhanden, jedoch noch nicht zu erkennen. D.h. es hat noch keine äußere Form, noch keine Individualität. Unmittelbar darauf folgend kommt das Taiji, ohne jeden Zwischenschritt. Hier wird das, was bereits im Wuji enthalten war, spürbar, sichtbar und für uns erfahrbar. Dennoch sollte die Unscheinbarkeit des Wuji nicht dazu führen, diesen Urgrund auszublenden, denn die Annäherung an ihn ist unser Ziel.

 

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