Einleitung
Taijiquan ist eine Bewegungskunst, die ursprünglich eine Kampfkunst war. Das Wort „war“ ist hier nicht ganz richtig. So wie wir Taijiquan heute kennen, ist die kämpferische Intention nur noch andeutungsweise zu erkennen. Der Ursprung ist und bleibt aber in den Kampfkünsten. Die Art, wie wir Taijiquan heute praktizieren, hat meist nichts mehr mit dem Wunsch, eine Kampfform zu lernen, zu tun. Heute steht der gesundheitliche und persönlichkeitsbildende Aspekt im Vordergrund. Warum sollten wir uns dann mit den Klassikern dieser Kampfkunst befassen?
Taijiquan als Kampfkunst gehörte von Beginn an zu den inneren Kampfkünsten. Die Unterscheidung nach inneren und äußeren Stilen hat in der heutigen forschenden Betrachtung an Bedeutung verloren. Grundsätzlich wurde diese Unterscheidung danach getroffen, was in der jeweiligen Kunst im Vordergrund stand. Den äußeren Stilen sprach man zu, die kämpferischen Fähigkeiten auf einer Basis aus Körperbeherrschung, Technik, Kraft und Geschwindigkeit zu entwickeln. Den Kampf auf Weichheit und der vom Gegner eingesetzten Kraft aufzubauen, war ein Merkmal der inneren Stile. Natürlich finden wir im Lernen und Üben beider Ausrichtungen Überschneidungen. Doch gewisse Merkmale der Unterscheidung sind auch heute noch zu erkennen.
Der ursprüngliche Gedanke, der bei der Entwicklung der inneren Stile (z.B. Taijiquan, Baguazhang, Xingyiquan) Pate stand, war die chinesische Weltanschauung zur Zeit der Entstehung des jeweiligen Stils. Der Legende nach gilt Zhang Sanfeng, ein daoistischer Mönch um das erste Jahrtausend, als Begründer des Taijiquan. Der Daoismus wird heute in erster Linie den Religionen zugeschrieben. In ihrem Ursprung waren die über Jahrhunderte entstandenen Lehren des Daoismus philosophisches Modelle zur Erklärung der Wirkprinzipien in Kosmos, Umwelt und Mensch. Diese Weltanschauungen waren darüber hinaus auch Grundlage anderer Entwicklungen, wie zum Beispiel der Chinesischen Medizin oder dessen, was wir heute unter Qigong verstehen. Da innere Kampfkünste aus diesem Weltbild entwickelt wurden, ist ein Blick auf die Klassiker des Taijiquan auch für den gesundheitlichen und persönlichkeitsbildenden Weg sinnvoll.
Mein Einstieg in die Theorie
Als ich begann, mich auch intensiver mit der Theorie zum Taijiquan zu beschäftigen, war ich überrascht ob der Menge an Büchern und Artikeln zu diesem Thema . In dem ein oder anderem Kurs wurden auch Textabschnitte zur Erklärung herangezogen. Meine Neugier war groß, und so beschaffte ich mir, was ich bekommen konnte. Ich fand zu dieser Zeit jedoch kaum deutsche Fassungen zu den Klassikern und musste mich durch englische Übersetzungen quälen. Als ich damals Chen Jumin, meinen Taijiquan und Qigong Lehrer, kennenlernen durfte, fragte ich ihn, ob er nicht eine deutsche Fassung des Taijiquanlun herausbringen könne. Jumin lehnte ab. Er erklärte, dass der Text auch für ihn immer wieder eine andere Bedeutung hätte. Es war mir noch nicht klar, was er damit sagen wollte. Ich befasste mich weiter, mit dem was mir vorlag, und fing auch an, mittels eines Wörterbuches die chinesischen Schriftzeichen ins Deutsche zu übertragen.
Erst Jahre später wurde mir zunehmend klar, was Jumin damals ausdrücken wollte. Die erste „Übersetzung“ die ich damals zusammenbastelte, hatte plötzlich an Bedeutung für mich verloren. Mein Verständnis über das Taijiquan hatte sich verändert. Ich bemerkte über die Jahre, dass sich der Fokus auch beim Üben immer wieder verändert. Oft war es so, dass Inhalte, mit denen ich mich vor längerer Zeit beschäftigt hatte, erst später in einem völlig andrem Zusammenhang klarer geworden sind. Klarer, so bemerkte ich, ist nicht gleichbedeutend mit präzise. Mein Empfinden von Verständnis stieg mit der Offenheit. Der Kern meines Verständnisses liegt für mich auch heute noch in der offenen Betrachtung der Dinge.
Vor einigen Jahren bekam ich von Jürgen Licht eine sehr stilvolle Sammlung verschiedener Texte zum Taijiquan, die „Sieben Schätze des Taijiquan“[1]Licht Jürgen, Sieben Schätze des Taijiquan, München. Jürgen Licht beschreibt in der Einleitung, dass diese Übersetzung eine Momentaufnahme seines Übungs- und Erfahrungsstandes ist.
Denken heißt: Den Bezug zu den eigenen Erfahrungen ergründen
Ich möchte allen, die sich mit Texten dieser Art befassen möchten, anhand des Taijiquan Lun die Möglichkeit geben, eine Art Basis zu haben, um damit ein eigenes Verständnis zu entwickeln. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich, wie bei allem im Taijiquan, nur um einen Prozess handeln kann. Das einmal Erarbeitete wird sich verändern. Wichtig dabei ist, dass wir mit der Veränderung das Alte nicht als falsch abwerten. Zum Zeitpunkt des Entstehens ist es für einen persönlich immer richtig. Im folgendem habe ich den Text des Taijiquan Lun tabellarisch aufbereitet. Blockweise sehen Sie die Schriftzeichen in der traditionellen und vereinfachten Schreibweise, die dazugehörige Pinyin-Umschrift und Auszüge aus Wörterbüchern. Teilweise werde ich zum besseren Verständnis auch auf die Grammatik der Schriftzeichen eingehen. Im ersten Teil werde ich versuchen, auf persönliche Interpretationen zu verzichten. Im zweiten Abschnitt finden Sie den ganzen Text ein weiteres Mal mit meinen Interpretationen. Dieser zweite Abschnitt stellt, wie bereits beschrieben, in diesem Fall meinen derzeitigen Erfahrungsstand im Kontext des Textes dar. Darüber hinaus werde ich versuchen, so viel wie möglich Material zum eigenen Forschen bereit zu stellen.
Fußnoten